Dass wir einerseits mit einer Identität geboren werden, diese gleichzeitig aber noch erwerben müssen, scheint gleichermaßen paradox wie spannend. Und dass diese Identität zwar dem Namen nach (von lat. idem: dasselbe) Einheit verspricht, sich tatsächlich jedoch in vielerlei Teile und Rollen zergliedert, die nur durch irgendein mehr oder weniger bewusstes Ich zusammengehalten werden, mindestens ebenso.
„Wer bin ich?“ oder vielmehr: „Wer kann, wer soll und wer oder wie will ich sein?“ war die Frage, um die unser diesjähriges Theaterprojekt kreiste.
Wer mag, kann sich den gedanklichen Rahmen, den wir gespannt haben, hier noch einmal wissenschaftlich fundiert erklären lassen:
„Ich bin nicht der, der ich sein soll“ – Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“
Beim ersten literarischen Werk, das wir uns zur Bearbeitung vorgenommen haben, handelt es sich um eine 1900 erstmals veröffentlichte Novelle, die fast in Gänze als innerer Monolog des jungen Leutnant Gustl dargestellt wird.
Zum Inhalt:
Nach einem Konzertbesuch gerät er in der Schlange an der Garderobe in einen Streit mit dem ihm Bäckermeister Habetswallner, der nach seinem Säbel greift und den Leutnant als „dummer Bub“ beschimpft. Wie paralysiert wehrt sich Gustl nicht gegen diese Beleidigung seiner Ehre. Bei seinem daran anschließenden Spaziergang durch die Wiener Nacht wird er von Ängsten verfolgt. Er hadert mich sich, seiner Scham und der Furcht davor, der Bäcker könne diese Entehrung gleich oder bei einer späteren Gelegenheit publik machen.
Es scheinen mehrere „Gustls“ (bei uns sind es insgesamt drei) zu sein, die in seiner neurotischen Psyche miteinander streiten und seine Ängste und Wünsche zum Ausdruck bringen.
Wer wissen mag, welches Ende es mit dem Leutnant nimmt, kann dies einmal an geeigneter Stelle nach- oder einfach die gesamte Novelle lesen.
„Ich will nicht sein, wofür ihr mich haltet“ – Max Frischs „Andorra“
Anders ergeht es dem jungen Andri in Max Frischs Drama „Andorra“ (1961), welches – so stellt der Autor selbst klar – nichts mit dem real existierenden Kleinstaat in den Pyrenäen zu tun haben, „auch kein anderer wirklicher Kleinstaat“ sein soll. Andorra, so Max Frisch, ist „der Name für ein Modell“. Aber verhält es sich hier nicht wie mit dem „rosa Elefanten“, an den man nicht denken soll („Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten“)? Warum der Name „Andorra“? Vielleicht, weil dieses Modell wie sein Name eben NICHT NICHTS mit der Wirklichkeit zu tun hat; weil die zwölf Bilder der Fiktion auf der Bühne zeigen, was doch irgendwo immer wirklich ist bzw. immer wieder wirklich sein kann; dass großes Unrecht keines großen Staates, ja vielleicht überhaupt keines Staates bedarf; weil es in den Köpfen und Herzen der Menschen entsteht.
Zwölf Bilder sind es der Form nach auch in unserer Fassung geblieben – inhaltlich jedoch natürlich arg „eingedampft“. Der Autor möge es uns nachsehen.
Zum Inhalt:
Die Einwohner Andorras leben in ständiger Furcht vor einem Angriff der „Schwarzen“, ihrem Nachbarvolk, bei dem Juden verfolgt und ermordet werden. Dass auch die Andorraner mehr oder weniger verborgen antisemitische Vorurteile hegen, bekommt der junge Andri zu spüren, der vom Lehrer Can angeblich als jüdisches Kind vor den Schwarzen gerettet und von ihm neben seiner leiblichen Tochter Barblin als Sohn der Familie aufgezogen wurde. Andri und Barblin verlieben sich ineinander, halten ihre Liebe aber noch geheim. Andri träumt davon, einmal Tischler zu werden.
Das Stück beginnt am Vortag des Sanktgeorgstags, der den Andorranern ein wichtiger Feiertag ist.
Bild 1: https://youtu.be/pKBvmq65WI0
Tatsächlich gelingt es Can, die unverschämt hohe Summe für Andris Tischlerlehre aufzutreiben. Andri ist außer sich vor Glück…
Bild 2: https://youtu.be/CR-1EcyDJqo
„Weil du Jud bist“ – Die Konfrontation mit dem Soldaten reiht sich ein in eine aus Andris Sicht nie enden wollende Kette an Demütigungen durch die Andorraner.
Bild 3: https://youtu.be/GNRCkFKQGQQ
Wie zu befürchten war, wird Andri vom Tischler für seine angeblich jüdischen Verhaltensweisen (weil er’s ja „nicht im Blut hat“) gegängelt.
Bild 4: https://youtu.be/cwpyJzn4_tc
Gegen Andris Niedergeschlagenheit hilft auch kein Besuch des Doktors…
Bild 5: https://youtu.be/iKUM8VW0yrA
… und auch kein Vater-Sohn-Gespräch.
Bild 6: https://youtu.be/pTs7D4yBlqg
Wieso geht es nicht, dass Andri und Barblin heiraten? Welche Wahrheit steckt hinter der Lüge, von der Can hier spricht?
Andri hat die Nase voll: von dem Soldaten, dem Tischler, seinem Vater, von Andorra überhaupt.
Bild 7 und 8: https://youtu.be/GYb6rqbl35E https://youtu.be/dr-k-GvW_Qs
Schließlich sucht Andri Zuflucht und Rat beim Pfarrer.
Bild 9: https://youtu.be/X1md89-rYnE
Da ist er jedoch nicht der Einzige. Und nun tritt auch die fatale Lüge ans Licht, die Andris Leben bestimmte.
Bild 10: https://youtu.be/HCgk8nCpD3w
Der Pfarrer soll nun Andri „erlösen“.
Bild 11: https://youtu.be/Nzan1OPfPzY
Manchmal bedeutet „spät“ einfach „zu spät“. Andri hat „den Jud in sich angenommen“ und will Andorra verlassen. Zu einer gemeinsamen Flucht mit Barblin kommt es dann jedoch nicht mehr…
Bild 12: https://youtu.be/i0dEO3WnCFU
Mitwirkende:
Darsteller*innen:
Lina Cambe (Der Pfarrer | Der Judenschauer) | Tiphaine de Rességuier (Gustl 2 | Der Doktor) | Florian Duquesnoy (Gustl 1 | Der Soldat) | Jules Hamou (Der Bäckermeister | Der Lehrer Can ) | Galé Hübschmann (Andri) | Eva Salmon (Gustl 3 | Barblin) | Uliana Kuznetsova (Der Tischler | Prof. Dr. Knoprich)
Hinter den Kulissen:
Mario Seiler (Regie) | Stefanie Jäckel (Regie | Textredaktion | Gesamtleitung)
Kontakt
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